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Dieser Artikel erschien
am 13.08.2000 im Berliner
Tagesspiegel
.Was ist extremstisch?
  - Zwischen Filter und Informationsfreiheit

Zu fordern ist - immer wieder -: Filmfreiheit, Rundfunkfreiheit, und zwar völlige Freiheit. Die Strafgesetze genügen, wie bei Büchern. Jeder Einwurf dagegen, auch solche von den Bildungsbonzen der SPD, stammt aus einem Polizeigehirn. Diese Sätze schrieb Kurt Tucholsky 1932. Sie sind aktuell, man muss nur noch das Medium Internet hinzufügen. Wäre Tucholsky heute der Redakteur einer deutschen Zeitung und verträte seine damalige Meinung, man würde ihn vermutlich auslachen. Die Justizministerin, der Weltkonzern Bertelsmann, die Bild-Zeitung, die CDU fordern keine Freiheit, sondern einmütig Filter für das Internet, um das Böse zu bannen. Also das Gegenteil. "Decken Sie Seiten mit extremistischem Inhalt auf", heisst es auf der Website der gut gemeinten Intiative "netzgegengewalt.de". Das Netzmagazin Telepolis bezeichnet die Initiative der CDU als "scheinheiligen Aufruf zur Denunziation." Denunziation ist auch dann zu verurteilen, wenn sie die vermeintlichen "Richtigen" trifft. Die Diskussion in England um das öffentliche Outing von Sexualstraftätern und deren Folgen - Lynchjustiz - beweist das. Das Böse zu "entlarven" und der Obrigkeit zu melden, appelliert immer an niedrige Instinkte.

Der demokratischen Rechtsstaat hat ausschliesslich die Exekutive und die Justiz mit der Verfolgung von Straftaten beauftragt. Bürgerwehren und Blockwarte, auch wenn sie online patrouillieren, sind problematisch. Wozu gibt es den Verfassungsschutz und die Polizei? Sind diese Behörden nicht in der Lage, ein paar Dutzend ultrarechter Websites in Deutschland einem Provider zuzuordnen, wie es jeder Surfer könnte, und, falls dort Illegales verbreitet wird - und nur dann! -, die nötigen Maßnahmen zu treffen? Welchen Sinn und Zweck sollte es haben, Nazi-Seiten auf US-amerikanischen oder gar russischen Rechnern deutschen Behörden anzuzeigen?

Und was könnte "extremistisch" sein? Sollen wir, nach je eigenem politischen Ermessen, das suchen, was politisch "extrem" ist - im Vergleich zu wem oder was? Also zum Beispiel extrem links? Hat Sarah Wagenknecht eine Homepage, die in den geplanten Web-Filter von Bertelsmann aufgenommen werden müsste? Auch die spanische Separatisten-Organisation ETA ist "extremistisch", unstrittig verübt sie terroristische Anschläge. Dennoch erlaubten die Behörden eine Demonstration ihrer Sympathisanten - in Deutschland gäbe es einen empörten Aufschrei nach einem Verbot. Erst am Dienstag stellte der US-Bundesrichter James H. Michael fest, dass ein Gesetz des Bundesstaates Virginia, das die Verbreitung "jugendgefährdender Inhalte" im Internet unter Strafe stellt, gegen den ersten Verfassungszusatz zur Meinungsfreiheit verstößt. In Deutschland hingeben gibt es scheinbar einen kollektiven Konsens zwischen Politik und Medien, nicht Medienkompetenz zu fördern, sondern das virtuelle Böse, was auch immer es sei, zu denunzieren, zu sperren und den Blicken der Untertanen zu entziehen.

>Das Bundeswirtschaftsministerium stellte in einer Expertise zu Filtersystemen fest: "Jedes System kann bei falscher Konfiguration und fehlender Kontrolle zur Beschränkung der Informationsfreiheit missbraucht werden." Und: "Ein auf den deutschen oder europäischen Kulturraum zugeschnittenes Werte- und Kategoriessystem existiert nicht." Das wird auch so bleiben, und deshalb funktionieren technische Filter in einer Demokratie nicht, sie gefährden eher deren Grundwerte. Der Versuch des Bertelsmann-Konzerns, eine Art Michelin-Führer für Seiten im World Wide Web zu erstellen, wurde 1999 unter dem Titel "Verantwortung im Internet" publiziert. Die dort gemachten und technisch unausgereiften Vorschläge stiessen bei Fachleuten und Datenschützern auf Ablehnung. Marit Köhntopp zog in einem Gutachten für das Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein das Fazit: zentrale Maßnahmen von staatlicher Seite seien "nicht Erfolg versprechend". Auch eine "freiwillige Selbstkontrolle" der Provider sei fragwürdig. Es sei "daher unbedingt zu verhindern, dass die Definition moralischer und gesellschaftlicher Werte in den Aufgabenbereich privater Organisation übertragen wird."

Der Ruf nach Verboten aber und Denunziationen scheinen in Deutschland zum kulturellen Erbe zu gehören. Die Polizeigehirne sind noch allgegenwärtig. Das wusste Tucholsky. Er schrieb resignierend: "Deutsch bleibt deutsch, da helfen keine Pillen."

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