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Diese Artikel
erschien in der Broschüre:
"Sekten und Psychogruppen
in Deutschland:
Gefahr für Demokratie
und Gesellschaft?"
hrsg. von der
FES Thüringen,
Erfurt 1999
.Christlicher Fundamentalismus:
  - Traditionelle Sekten und Sondergemeinschaften - Zeugen Jehovas, Neuapostolische Kirche, Mormonen
"Weil du aber lau bist", heißt es warnend in der Apokalypse des Johannes, "und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde." Der Vorwurf, nicht entschieden, nicht unbeirrbar, nicht überzeugend genug zu sein, die ethischen Werte und religiösen Gebote nicht ausreichend zu achten, existiert, solange es eine Kirche oder andere Formen religiöser Hierarchien gibt. Sekten oder Gruppen, die sektiererische Züge tragen, haben immer als Reformbewegung dessen begonnen, was sie heute vehement bekämpfen. Ab 1910 veröffentlichten protestantische Theologen in den USA eine Buchreihe mit dem Titel "The Fundamentals" - ein Appell, sich wieder auf die Grundlagen des christlichen Glaubens zu besinnen. Die Autoren lehnten jeden Kompromiß mit der säkularen Gesellschaft ab: Die Bibel sei absolut unfehlbar und wörtlicher Ausdruck göttlicher Wahrheit, die Mißstände der Gesellschaft könnten nur behoben werden, indem man sie wieder auf eine religiöse Grundlage stellte, die eifrige Bekehrung aller "Ungläubigen" sei Pflicht. Damit war die ideologische Grundlage für den Fundamentalismus gelegt - eine Erscheinung, die nicht auf das Christentum beschränkt ist, sondern sich in den anderen Buchreligionen, dem Islam und dem Judentum, ähnlich zeigt.

Der Fundamentalismus ist ein weltanschaulicher Ausdruck, der erkenntnistheoretische und - in seiner Wirkung - gruppendynamische Code eines Mißstandes, der sich von den klassischen Denkkategorien der Moderne nicht mehr entschlüsseln läßt. Der fundamentalistische Islam in den arabischen Ländern ist der direkte Erbe des Marxismus, und die politische Auspägung des christlichen Fundamentalismus, die Evangelikalen und die sogenannte "Moral Majority", fühlten sich, zusammen mit ihren wichtigsten Verbündeten, den radikalen Antikommunisten der USA, als die Hauptfeinde der Befreiungstheologie. Der christliche Fundamentalismus verspricht die kollektive Gesellschaftstherapie durch Rechristianisierung von unten. 1 Die großen christlich geprägten Sondergemeinschaften Zeugen Jehovas, Mormonen und die Neuapostolische Kirche tragen zwar noch starke sektiererische Züge, werden aber in der Öffentlichkeit nur noch dann als Problem wahrgenommen, wenn die Reglementierung des Alltags für ihre Mitglieder zu Konflikten führt. Die christlichen Theologen haben ihren Frieden mit den ungeliebten "Kindern" geschlossen. Die früher als "Sekten" diffamierten Gruppen werden heute als Fleisch vom Fleisch der Amtskirche begriffen, als verirrte Schafe, an die man großzügig appelliert, wieder unter das Dach der Ökumene zu schlüpfen.

Diese Gruppen, die alle Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entstanden, sind nichts anderes als fundamentalistische Erneuerungsbewegungen des Christentums unter anderen sozialen Bedingungen: die säkularen Religionen wie der Marxismus mit seinem chiliastischen Heilsversprechen, das soziales Paradies durch eigene und kollektive Anstrengung kurzfristig erlebbar zu machen, hatten ihre Blütezeit noch vor sich. Der heutige Fundamentalismus kann argumentieren, eine säkulare Gesellschaft und ihr atheistische "Humanismus", der den freien Individuen in eigener Verantwortung überläßt, das Seelenheil zu suchen, seien gescheitert und nicht in der Lage, die drängenden sozialen, psychischen und ethischen Probleme zu lösen. Dem Fundamentalismus Anfang des neunzehnten Jahrhunderts blieb der Appell an die großen Kirchen, Reformideen aufzunehmen; er missionierte nur die, die ohnehin religiösen Ideen nahestanden, verzichtete aber weitgehend auf soziale Utopien oder in Konkurrenz zu ihnen zu treten.

Es spricht jedoch nichts dagegen, die Zeugen Jehovas, die Mormonen und die Neuapostolische Kirche sowie deren unzählige Abspaltungen als "Sekten" zu bezeichnen: Das Selbstverständnis der genannten christlichen Sondergemeinschaften beruht wesentlich auf der Idee, jeweils nur sie besäßen den einzig wahren Zugang zu Gott, nur ihre Gruppe sei im Besitz des "richtigen" Glaubens, und nur die, die den jeweiligen Führern folgten, hätten eine Chance, das zu erreichen, was die Bibel den Rechtgläubigen verspricht: die ewige Nähe zu Gott. Wer nicht Mitglied der Neuapostolischen Kirche ist, gehört - nach deren Auffassung - nicht zu den "Auserwählten", die errettet werden vor dem Wüten der finsteren Mächte. Alle Religionen neben der Zeugen Jehovas sind, so glauben die, "vom Teufel"; und wer kein Mormone ist, ist auch nicht "heilig" - ausgesondern, auserwählt, und mindert somit erheblich seine Chancen, dem Bösen erfolgreich wiederstehen zu können. Wer meint, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, ist Sektierer. Eine Organisation, die das behauptet, ist, im alltäglichen Sprachgebrauch und -verständnis, eine Sekte, auch wenn sie sich nach außen noch so kompromißbereit und "zivil" geben mag.

Die Mormonen (oder: Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage2), die Zeugen Jehovas und die Neuapostolische Kirche (NAK) habe, obwohl sie sich gegenseitig als "Teufelswerk" ansehen mögen, Gemeinsamkeiten: Sie missionieren eine ähnliche Klientel, versuchen die stagnierende Mitgliederzahl in ihren Stammländern durch verstärkte Aktivität in der "Dritten Welt" auszugleichen, und haben Probleme, die ursprüngliche chiliastische und eschatologisch ausgerichtete Endzeiterwartung in die Jetztzeit zu retten. Der religionssoziologische Mechanismus, der zu ihrer eigenen Gründung führte - der fruchtlose Appell an die Kirchen, sich zu ändern, stellt ihr Selbstverständnis immer wieder in Frage. Die NAK zum Beispiel ist diejenige christliche Gemeinschaft, die mit den meisten Abspaltungen - also Sektenbildungen - zu kämpfen hat.

Alle Gruppen scheuten in der Vergangenheit vor weder vor gnadenlosem politischen Opportunismus noch vor weltanschaulichen Kehrwendungen zurück: Der Führer der Neuapostolischen Kirche während der Nazi-Zeit, Friedrich Bischoff, empfahl 1933, bei Eintrittsgesuchen von Mitgliedern aufgelöster Organisationen deren Personalien "der zuständigen Ortsgruppe der NSDAP zur Nachprüfung vorzulegen." 3 Die Mormonen ließen Afroamerikaner bis 1978 keine kirchlichen Funktionnen übernehmen, weil deren Hautfarbe ein Zeichen vorgeburtlicher Verfehlung sei. Die Zeugen Jehovas, in der Öffentlichkeit als Pazifisten bekannt, verweigern sich jetzt nicht mehr dem Dienst an der Waffe. Unter den Mitgliedern wird hierüber kaum diskutiert, werden sie doch angehalten, wie in jeder Sekte üblich, nur die offiziellen Verlautbarungen zur Kenntnis zu nehmen.

Sachliche Informationen über diese drei Gruppen sind jedoch außerhalb der theologischen Diskussion nur schwer zu bekommen. In Deutschland steckt die wissenschaftliche Forschung zum Thema Fundamentalismus noch in den Kinderschuhen. Über die Neuapostolische Kirche zum Beispiel ist seit 1945 kein einziges ernstzunehmenden Buch erschienen, das nicht aus christlicher Position geschrieben wäre. 4 Aus religionssoziologischer Sicht interessiert jedoch wenig, ob die "Wiedertaufe" der Neuapostolischen oder die freimaurerisch anmutenden Tempelrituale der Mormonen akzeptierte christliche Rituale sein sollen, oder ob man Zeugen Jehovas zum protestantischen Abendmahl zulassen soll, wenn sie denn wollten. 5 Zudem wird die Sekten-Diskussion durch die Dominanz der unsäglichen und international belächelten Totalitarismus-Doktrin gelähmt. Weil es an analytischer Tiefe und interdisziplinärem Interesse fehlt - etwa an der Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Judentum - , ziehen sich hiesige Theoretiker auf Positionen der sogenannten "Extremismus"-Theorie zurück. Die jedoch "steht weder auf empirisch gesicherten Boden noch verfügt sie über ein theoretisches Fundament, das tragfähig wäre." 6 Was ist von einer "Fundamentalismus"- oder "Sekten"-Theorie zu halten, die ihre wissenschaftliche Positionen ausschließlich auf Veröffentlichungen des Verfassungsschutzes und deren weltanschauliche Epigonen gründet? Die Theorie, nur die "Extreme" seien der Demokratie gefährlich oder kritikwürdig, ist etwa in der Rassismus-Forschung noch nie ernst genommen worden. Während die "Extremismus-Theorie" in Politologie und (Religions-)Soziologie eine - zu Recht! - kümmerliche Schattenexistenz fristet, feiert sie - nur in Deutschland - beim Thema Sekten fröhliche Urständ.

Jede Theorie, die gesellschaftliche Gruppen als problematisch und im Extremfall als gefährlich definiert, folgt einem politischen Verwertungsinteresse. Der gängige Diskurs zum Thema Sekten läßt etwa außer acht, daß zum Beispiel die konspirativ arbeitende katholische Organisation "Opus Dei" dem Verdikt des "Extremismus" anheimfallen würde, nähme man die eigene Theorie ernst. Aber niemand fordert, "Opus Dei" vom Verfagssunsschutz beobachten zu lassen. Alle Vorwürfe, die gemeinhin den Sekten gemacht werden, treffen auch auf Segmente der akzeptierten Religionen zu. 7 Fundamentalismus und seine organisatorische Ausprägung in Form diverser Sekten ist der Schatten, den das eigene, häufig sehr dürftige Licht wirft und ist untrennbar mit dem verbunden, was dem gesellschaftlichen und weltanschaulichem Mainstream entspricht.

1 Vgl. Gilles Kepel: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. München 1994, S. 197
2 Die beste und aktuelleste Information zu den Mormonen gibt es im Internet: www.mormonen.de. Der ehemalige Mormone Gunar Werner hat alle, auch die geheimen Dokumente der Sekte dort publiziert.
3 Kurt Hutten, ebd., S. 477 (Auflage1982)
4 Der erste kritische und überregionale Pressebericht über die Neuapostolische Kirche nach dem zweiten Weltkrieg stammt aus dem Jahr 1995 Vgl. "Extrem streng" in: Der Spiegel v. 30.10.1995.
5 Aus ähnlicher Position argumentiert Kurt Hutten. Seher, Grübler, Enthusiasten. Das Buch der traditionellen Sekten und religiösen Sonderbewegungen, Stuttgart, diverse Auflagen seit 1950 - ein äußerst informatives Standarwerk zum Thema, aber leider aus christlicher Sicht und ohne Bezug zur internationalen religions- und ethnosoziologischen Diskussion.
6 Christoph Butterwegge: Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt. Erklärungsmodelle in der Diskussion. Darmstadt 1996, S. 10.
7 Vgl. Günter Kehrer: Religion darf Unsinn sein. In. Die Zeit v. 7.2.97

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