[Informationen über Burkhard Schröder] [Suchmaschinen] [Medien im Internet] [Antifa, Nazi-Links] [Kryptographie und Steganographie] [Interessante Links] [Infos zu HTML] [SF-Krimi I] [SF-Krimi II] [Tron - Tod eines Hackers] [Internet-Literatur] [Journalistische Recherche im Internet] [E-Mail] [Startseite] [Sitemap]
.
Dieser Artikel erschien
am 13.01.2000
in der ZEIT,
Rubrik: Leben
.Wo war Boris F.?
  - Wie immer zum Jahrewechsel trafen sich Deutschlands Hacker zum Kongress. Und kannten nur ein Thema: den Tod ihres Kollegen Tron vor 15 Monaten. Selbstmord, sagt die Polizei - Mord, behaupten seine Freunde. Die Geschichte einer komplizierten Recherche
Die Zutaten für ein dramatisches Ambiente sind einfach und garantierten einen spannenden Abend: ein junger Mensch ist unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen, der Anwalt der Eltern wirft der Polizei Versagen vor, jemand versichert, auf eigene Faust zu ermitteln, die Eltern hadern mit dem schrecklichen Verhängnis und beteuern, ein Suizid könne es nicht gewesen sein. Seit einem Jahr ist der Tod des 26jährigen Computerspezialisten Boris F. alias "Tron" das beherrschende Thema im Hacker-Milieu. Der junge Mann aus Berlin-Britz war im Oktober 1998 erhängt in einem Park gefunden worden. Die Mordkommission ermittelte über ein Jahr, fand aber keine Anzeichen für eine Gewalttat.

Zwischen Weihnachten und Neujahr treffen sich alljährlich die Hacker Deutschlands. Der diesjährige 16. Kongress fand in Berlin statt, organisiert wie immer vom Chaos Computer Club. Das überwiegend jugendliche und männliche Publikum diskutiert Dinge, um die Normalsterbliche tunlichst einen großen Bogen machen: TCP-Penetration, Buffer Overflow, Biometrie und "objektorientiertes dynamisches Programmieren." Am ersten Tag geht es auch um ein menschliches Schicksal. Abends versammeln sich zweihundert Menschen in der grossen Aula und lauschen, was Andreas Müller-Maguhn, der Pressesprecher des Hacker-Vereins, glaubt zum Fall "Tron" herausgefunden zu haben.

Boris F. nannte sich nach dem Heros des gleichnamigen Walt-Disney-Films aus dem Jahre 1982. Ein Programmierer gerät in eine Cyberwelt und muss dort die dunkle Seite der Macht bekämpfen. "Tron" ist das digitale Gute, das der Geschichte zum glücklichen Ende verhilft. Der reale Tron bedeutet für die Hacker-Szene so viel wie Siegfried für die Deutschen. Die Sympathien sind eindeutig verteilt. Wenn es keinen finsteren Hagen gäbe, der den Helden hinterrücks und heimtückisch ermordete, müsste man ihn erfinden. Da erstaunt es nicht, dass das gegenüber technischen Dingen gewöhnlich äusserst kritische Publikum sich gutgläubig die abstrusesten Geschichten auftischen lässt. Die Gruppendynamik behält die Oberhand: wir, die Hacker, die dem Guten, Wahren und Schönen zum Sieg verhelfen, die da draussen, die böse Welt der Geheimdienste, kommerzieller Interessen und anderer Finsterlinge.

Boris F. ist vor einem Jahr obduziert worden. Der Pathologe ist ein anerkannter Wissenschaftler mit internationalen Referenzen, es bestand der Anfangsverdacht auf Mord. Das Ergebnis war jedoch eindeutig: Suizid. Boris F. verabschiedete sich an einem Sonnabend von seiner Mutter, bei der er wohnte, verschwand spurlos und hat sich vier Tage später erhängt. Am Donnerstag wurde er von einem Spaziergänger entdeckt. Niemand kann sich jedoch erklären, wo sich der junge Mann vor seinem Tod aufgehalten hat. Er hatte keine Freundin, aber scheinbar gab es keine Anzeichen für Depressionen oder andere Motive für einen Selbstmord.

Der Vertreter des CCC konstruiert eine abenteuerliche Geschichte: Es handele sich um einen Mordfall. Vermutlich sei Tron schon am Samstag getötet worden. Das Nudelgericht, das in seinem Magen gefunden worden ist, entspräche dem Augenschein der Mahlzeit, die er am Samstag zu sich genommen hätte. Fazit: der Hacker müsse nach seiner Ermordung "72 bis 96 Stunden fachmännisch bei vier Grad gekühlt worden sein", damit die Täter Zeit hatten, eventuelle Spuren zu verwischen, dann sei er - mit identischer Strangfurche - im Park aufgehängt worden, um Suizid vorzutäuschen. Mögliche Täter und deren Motiv kennt man jedoch nicht. Hauptkommissar Klaus Ruckschnat, Leiter der 3. Mordkommission im Berliner Landeskriminalamt, schüttelt nur den Kopf.

Der angebliche Hacker-Mord könnte zu den Akten gelegt werden, wenn die Geschichte nicht alle Ingredienzien für ein phantastisches Drehbuch hätte. Tron wurde zum Mythos für die kleine Gemeinde der fanatischen Computer-Freaks wie der "Mord" am Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß für die Neonazis oder die "Morde" von Stammheim für die letzten verbliebenen RAF-Sympathisanten. Man verzeiht es jemandem nicht, die Hoffnungen, die man in ihn setzt, enttäuscht zu haben: Boris F. galt als jemand, der sich an die vordersten Front der Kenntnisse bewegte, der immer der Beste sein wollte, der Erste, der eine Software knackte, bevor sie kommerziell verwertet werden konnte. Und: Geld interessierte ihn nicht. Wenn er ein paar hundert Mark für eine DPSC (Digital Pirate Satellite Card) losschlagen konnte, musste einer seiner Freunde den Kontakt zu den möglichen Kunden herstellen. Der Charakter des Hackers bestätigt alle Klischees, die in die Filmgeschichte eingegangen sind: Robin Hood, der seine Schätze den anderen gibt und für die gerechte Sache eintritt, David, der den Goliaths der Industrie ihre Grenzen zeigt, der etwas naive Held der Nibelungen-Saga, der nicht merkt, dass hinter seinem Rücken eine heimtrückische Intrige gesponnen wird, der er zum Opfer fällt. Und nicht zuletzt die modernste Variante: Tron, für den die Grenzen zwischen Realität und Cyberspace zu einer diffusen Matrix verschwimmen.

Kaum jemand weiss, womit sich der Hacker Boris F. in den letzten Monaten seines Lebens beschäftigte. Um so mehr wuchern die Spekulationen. Hatte er nicht als einer der Ersten eine Telefonkarte geklont, mit der man unbegrenzt lange telefonieren konnte? Der Handel mit illegalen Telefonkarten galt bis zur Erfindung des Handys als Wachstumsbranche des kriminellen Milieus. War "Tron" nicht ein genialer Chip-Experte, der den winzigen Prozessoren auf den Plastikkarten mit primitiven Mitteln ihre Geheimnisse entriss und die von den Herstellern vollmundig beschworene Sicherheit Lügen strafte? Im Internet kann man die Spuren des jungen Programmierers verfolgen: Dort bot er manipulierte gratis Software an, die es ermöglichte, PayTV-Karten freizuschalten, um fast alle Sender des Abonnement-Fernsehens gratis zu sehen - europaweit. Der graue, oft schwarze Markt für diese Chipkarten ist grösser als der Öffentlichkeit bewusst, die juristischen Implikationen unklar. Die Händler kommen per Internet-Angebot in Kontakt mit den Kunden, die bestellen per E-Mail. Die wenigen Hacker, die fähig sind, die eingebauten Zugangssperren zu überlisten, werden von den Software-Dealern umkreist wie Rotkäppchen vom bösen Wolf. Wer zuerst kommt, der sahnt ab, solange bis die Herstellerfirmen die Codes wieder ändern.

Während seines Studium glänzte Boris F. mit intuitiven Lösungen für schwierige Probleme, sein Professor schwärmt noch heute von den genialen Eingebungen seines Studenten. "Er war den anderen in Zehnerpotenzen überlegen". Als Diplomarbeit entwickelte "Tron" im Alleingang ein ISDN-Telefon, das den digitalen Datenstrom des Gesprächs verschlüsselt. Derartige Geräte gibt es zwar schon, aber nur wenige Firmen in Europa haben Fachleute, die in der Lage sind, die Probleme der komplizierten Algorithmen zu beherrschen. Hätten nicht die Geheimdienste in aller Welt ein Interesse haben müssen, sich der Kenntnisse des Computer-Künstlers zu versichern?

Die Eltern fanden einen mysteriösen Lieferschein im Zimmer ihres Sohnes - ein handschriftliches Kürzel, ein Firma in Israel: NDS. Einige Wochen vor seinem Tod hatte der Hacker ein halbes Dutzend Mikroprozessoren geschickt bekommen. Die können das digitale Innenleben von Chipkarten verwalten oder auch mathematische Algorithmen. Die Mini-Computer sind nur in großen Mengen zu beziehen und deshalt teuer. Jemand hatte Boris F. einen Gefallen tun wollen und ihm einige wenige geschenkt. Sie waren offenbar dafür bestimmt, die veralteten Prozessoren seines ISDN-Telefons zu ersetzen.

Aus der Perspektive von Berlin-Britz erscheint eine Verbindung in den nahen Osten überaus mysteriös. Der junge Hacker kannte Leute, die ein hervorragendes Personal für einen Agenten-Film hergeben würden. Boris F. schilderte diese Kontakte vor Eltern und Freunden so geheimnisvoll, dass jeder glauben musste, das Schlapphut-Milieu interessierte sich brennend für das Geschehen in Trons Kinderzimmer. Das ist nicht ganz abwegig, war doch ein ehemaliger Scotland-Yard-Mann, Ray Adams, in Berlin, um sich bei Boris F. umzusehen. Adams, so raunt man sich unter PayTV-Hackern zu, sei eine Art Headhunter im Dienste des Medienzaren Leo Murdoch. Murdochs Konzern NDS mit Hauptsitz in London hat eine überaus aktive Rechtsabteilung, die die Umtriebe der kommerziellen PayTV-Piraten in ganz Europa scharf im Auge behält. Man möchte gern darüber informiert sein, welcher der Hacker mit welchem Produkt "beschäftigt" ist, um gegebenenfalls auf die Finger zu klopfen. Auch hier funktioniert das Prinzip Zuckerbrot und Peitsche prächtig. Adams übermittelte dem Hacker Boris F. das Angebot eines Universitätsstipendiums in Israel, mit der Aussicht, dort einen Job zu bekommen. In Jerusalem residiert eine Niederlassung von NDS, die sich auf die Sicherheit von Chipkartensystemen und die Entwicklung von Algorithmen spezialisiert hat. Der Berliner Computerfreak hätte ein interessantes Team kennengelernt: der "Chief Scientist" des Unternehmens, Yossi Tsuria, hat in seiner Jugendzeit versucht, Palästinenser in die Luft zu sprengen und erst im Gefängnis sein Mathematik-Studium beendet. Die graue Eminenz des Unternehmens ist Adi Shamir, einer der legendären Erfinder des RSA-Algorithmus, der gegenwärtige als einer der sichersten der Welt gilt. Doch "Tron" wollte nicht. Markus Kuhn, Computerexperte der Universität Cambridge, anerkannte Chipkarten-Experte und langjähriger Bekannter des Berliner Hackers: "Boris war viel zu paranoid, um ein so interessantes Angebot wahrzunehmen."

Die Kombination von Scotland-Yard und Israel lässt die Hacker-Augen leuchten. Tron sei ein "Sicherheitsrisiko" gewesen, weil er das Job-Angebot abgelehnt habe, behauptet der Sprecher des Chaos Computer Clubs. Die Fakten sprechen auch hier eine andere Sprache. Die israelische Firma war, so gibt Ray Adams zu, darüber informiert, woran "Tron" gerade arbeitete. Man hätte, wenn man böswilllig gewesen wäre, durchaus ein Motiv gehabt, ihn darin zu unterstützen. Der Berliner Hacker kompromittierte wenige Wochen vor seinem Tod das Produkt der Konkurrenz - das "Irdeto"-System der südafrikanischen Firma Mindport, das auch bei Premiere eingesetzt wird. NDS verhält sich zu Mindport ungefähr wie Vodafone zu Mannesmann. Vom "Irdeto-Hack" wussten nur wenige Vertraute, mit denen "Tron" nur per verschlüsselter E-Mail kommunizierte, weder die Eltern noch seine Berliner Bekannten noch der Chaos Computer Club, mit dem er - entgegen der Beteuerungen des Hacker-Vereins - nur lose verbunden war.

Der Fall "Tron" zwingt den Chaos Computer Club zu einer Gratwanderung - mit der großen Gefahr abzustürzen. Zur Zeit der Gründung stand man permanent in Gefahr, zu einer terroristischen Vereinigung abgestempelt zu werden. Genüßlich betreiben die Veteranen, allen voran der bärtige Gründer Wau Holland, bei jedem Kongress Oral History: Sie erzählen den begierig lauschenden Jugendlichen die alten Geschichten von Hausdurchsuchungen, Strafanzeigen wegen illegalen Modem-Besitzes und dem legendären Hack der Hamburger Sparkasse, die man um knapp 140000 DM erleichterte, nicht wegen Gier nach schnödem Mammon, sondern um das Geld mit unschuldigem Augenaufschlag und dem verschmitztem Hinweis auf erhebliche Sicherheitslücken wieder zurückzugeben. Der Club war Selbsthilfegruppe und Think-Tank des frei flottierenden Hackertums. Jetzt muss man einen Spagat schaffen: zwischen den anarchischen Bestrebungen des Nachwuchses, der den Lustgewinn des digitalen und sinnfreien Penetrierens fremder Comptuer einfordert, und der angestrebten Seriösität der hauptamtlichen Reisenden in Datensicherheit des CCC. Für die Jugend ist eine handfeste Verschwörungstheorie, wie gefährlich ihr Tun sei und dass geheimnisvolle Finsterlinge den Stars unter ihnen auflauerten, genau das Richtige, um den Zusammenhalt zu stärken, der ohnehin noch nie existierte. Für diejenigen der Hacker, die auf Einladungen seriöser Institutionen in Fragen Computersicherheit hoffen, gilt die durch den CCC-Pressesprecher "authorisierte" Verschwörungstheorie zum Fall "Tron" als Katastrophe.

Der Computer ist für junge Männer des neuen Jahrtausends eine Art höhere Modelleisenbahn, die das Leben realistisch abbildet: Immer muss etwas repariert werden, und für die wesentlichen Dinge ist Gott in Person des Eigentümers zuständig. Die Lust besteht darin, mehrere Variablen in vorhersagbare Bahnen zu pressen. Wer scheinbar komplizierte Technik spielerisch beherrscht, glaubt für das Leben gelernt zu haben. Ein Hacker wie Tron gleicht einem Bergsteiger, der einem unbestiegenden Achttausender sein letztes Geheimnis entreisst: Zutritt verboten, weil gefährlich? Ich werde es euch zeigen. Warum steigt jemand auf einen Berg, der schon Dutzende in den Tod gerissen hat? Die legendäre und schon sprichwörtliche Antwort lautet: weil er da ist. Warum schließt sich ein junger Mann tagelang in sein Zimmer ein und sucht fieberhaft im Inneren eines winzigen Mikroprozessors nach einer falschen Kombination von Nullen und Einsen - und nur ein Dutzend Gleichgesinnter verstünde die Mühe, die hinter dem Ergebnis steht? Weil die Chipkarte nun mal da ist, und ausserdem ist es verboten. In der Gruppe potenziert sich das Vergnügen. Wer kollektiv Verbote übertritt, betreibt Hooliganismus mit anderen Mitteln. Der Gebrauch des Gehirns ist jedoch gesellschaftlich nicht so geächtet wie der der Fäuste und das Risiko, sich selbst zu schaden, geringer. Angstlust ist für die Phase der Adoleszenz das stärkste Gefühl. Zudem stärken in der Clique erworbene Fertigkeiten das Gefühl, stark zu sein und besser als die Erwachsenen.

Der Fall Tron zeigt die Risiken und Nebenwirkungen. Boris F. war Legastheniker, aussergewöhnlich begabt, und kompensierte seine Schwäche durch anderte Qualitäten. Gleichzeitig war er verschwiegen, ja verschlossen, gab zu, der Fan grausamer Horror-Filme zu sein und vermittelte Bekannten vor seinem Tod den Eindruck, unter extremer Belastung zu stehen. Eltern und Freunden verbarg er diese Seite seiner Persönlichkeit. In der Nacht vor seinem Verschwinden erlitt er eine große Enttäuschung - und darüber telefonierte er mehrere Stunden mit einem Vertrauten. "Boris war völlig durch den Wind", erinnert sich der. Doch das scheint niemanden zu interessieren, die Angehörigen reden nicht gern mit denen, die eine andere Sicht auf Boris F. haben. "Tron ist von allen nur ausgenutzt worden", sagt der Leiter der Mordkommission.

Das Buch: Tron - Tod eines Hackers
Artikel in der ZEIT, leicht gekürzt und verändert durch die Redaktion

< < zurück©Burkhard Schröder