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Dieser Essay erschien am
26.02.2000 im
Berliner Tagesspiegel
.Illusion Internet
  - Plappern gehört zum Handwerk

Aristoteles hat die Triebkraft des Internets prophezeit. "Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen", heisst es wuchtig in der "Metaphysik". Der Wunsch, alles zu wissen, ist eine Triebkraft, die Weltreiche erschütterte. Johann Gutenberg untergrub mit simplen Lettern aus Druckerschwärze das Lehrgebäude der katholischen Obrigkeit, deren Autorität auch darauf beruhte, dass sie das vorhandene Wissen verwaltete und sich anmasste, die Untertanen mit womöglich irritierenden Fakten zu verschonen. Umberto Eco hat diesem Prinzip in der Person des blinden Sehers Jorge ein literarisches Denkmal gesetzt.

Von "Der Name der Rose" zu Internet und E-Commerce ist es nur ein kleiner Schritt. Die Dienste des Internet - World Wide Web, Usenet, E-Mail, Suche nach Dateien, Chat - versprechen sofortiges Wissen für jedermann weltweit: virtuelle Spaziergänge in der Washingtoner Kongressbibliothek und in den heiligen Hallen der British Library auch für bayrische Bauern, wenn sie denn wollten. Der Computer ist nur ein Behelf auf dem Weg zum vollkommenden Wissen, eine Zwischenstufe wie der Neandertaler eine zum Jetztmenschen. Eine kollektive Maschine als Wissensspeicher, in seiner Projektion und verbunden mit allen anderen Wissenspeichern wäre die Idealform der Enzyklopädie von Diderot.

"Ganze Völkerschaften sind durch die Worte eines einzigen Predigers in Bewegung gesetzt worden", schreibt Hans Blumenberg in "Lebenszeit und Weltzeit", "wenn er nur zu beschwören vermöchte, die gerade Lebenden würden noch erleben, was überhaupt zu erleben sei." So auch die affirmativen Propheten des Cyberspace: wenn nur alle alles wüssten oder die Chance hätten, sich alles Wissen anzueignen, dann gäbe es, so die Hoffnung, eine Antwort auf die Fragen, über die der Homo (noch nicht) Sapiens seit grauer Vorzeit grübelt.

Wissen ist kumulierte Erfahrung von Generationen. Deshalb bedeutet Wissen Macht auch über die Interpretation der Geschichte. Näheres regelt die Ökonomie. Deshalb gelten E-Commerce und insbesondere Konzerne, die das Wissen über die Eingeweide seiner Rechner hüten und nicht offenlegen, als natürliche Feinde derjenigen, die die ursprüngliche Idee des Internets noch auf ihre Fahnen geschrieben haben. Wau Holland, Gründer des Chaos Computer Clubs, hält den Leitsatz hoch: "Wissen ist mit der Verantwortung verbunden, es weiterzugeben." Wer Wissen zurückhält, ist der Feind. Der Computer soll ein Werkzeug für jeden sein, "keine Ideologie-schwangere Maschine, die Macht verleiht wie ein Zahnarzt." Jeder Programmierer nehme Vorwissen anderer in Anspruch: Dessen sollte sich jeder bewusst sein, "bis zu Konrad Zuse". Das war der hehre Anspruch der ersten Hacker. "Hacken" bedeutete den schöpferischen Umgang mit der Technik, oft einer Maschine Befehle zu geben, die zwar möglich waren und zu interessanten Ergebnissen führten, aber von den Programmierern nicht dokumentiert worden waren. Die Natur, die nach Wissen strebt, siegt. Deshalb war die Gutenberg-Bibel die erste Hacker-Software.

Die Sprache verbindet Menschen und erklärt ihnen sich selbst im Vergleich zu anderen Existenzen. Sie schafft eine Simulation der Gedanken über die Welt in Form von Schallwellen. Der Computer lagert Teilmengen des Gehirns aus, simuliert die Aktivität des Kopfes, schafft ein digitales Werkzeug, in dem sich die Erinnerung und Erfahrung anderer sinnlich manifestiert. Die flüchtigen Bits und Bytes, die auf schimmernden Scheiben in den Rechnern schlummern, erhalten mit dem Internet eine Art höhere Existenz, ein Eigenleben: Das Ganze, die Gesamtheit aller vernetzten Rechenmaschinen, ist mehr als die Summe der Teilchen. Wie alle komplexen Existenzen werden auch Wissensspeicher krank. Die digital ausgelagerten Erfahrungen des Menschen können sich wie Geschwüre selbsttätig vermehren. Viren - kein Zufall, dass die Begriffe, mit denen Programme, die Unerwünschtes tun, aus der Medizin stammen. Je weniger sinnlich fassbar das Wissen ist, um so mehr behilft sich die unzulängliche Sprache mit Metaphern. Die Sprache ist die eigentliche Existenzform des Wissens - ein Individuum allein ist verloren, wenn es sich nicht seines Wissens in der Kommunikation mit anderen Existenzen vergewissert.

Der Personal Computer jedoch ist der Ötzi der digitalen Weltsprache: archaisch, mit individuellen Macken, fehlerhaft wie der Mensch, der ihn besitzt, und nur ein unzulängliches Mittel, die Ideen eines Kopfes in die vieler Köpfe zu transportieren. Das Internet ist eine Gemeinde sprechender Werkzeuge, als wären Hämmer in der Lage, sich über die Kunst des Nägeleinschlagens zu unterhalten. Die Datenübertragung zwischen Computern, das sogenannte TCP/IP-Protokoll, dessen Geburt 1975 auch als die wahre Geburtsstunde des Internet gilt, war als plattformunabhängige Sprache zwischen unterschiedlichen Wissenssystemen geplant, eine Art Computer-Esperanto über die Telefonleitung. Damals musste der Mensch per Tastatureingabe den Befehl an die Maschine geben, sich mit einer andern zu verbinden: LOG für "einloggen". Der Computer stürzte bei der Premiere nach dem zweiten Buchstaben ab - ein Menetekel der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens.

Das Internet entsinnlicht die Sprache. Der Mensch bewohnte mit seinem Körper nur den Raum, den er physisch erreichte. Jetzt bewohnt er nicht nur die ganze Welt, er ist auch potenziell überall erreichbar. Sein Wissen legt sich digital wie eine zweite Haut über den Raum. Vernetzte Computer waren revolutionär, weil sie weltweit Wissen transportierten. Die technische Revolution frisst ihre Kinder, weil andere Maschinen das bald auch können werden - Surfen per Handy und der Kühlschrank mit E-Mail-Adresse sind die Vorboten der Proletarisierung der Maschinenwelt und des Cyberspace.

Die virtuelle Welt galt in ihren Anfängen nur als Simulation der Öffentlichkeit, als Zweitwelt mit anderen, besseren Regeln als denen der schmutzige Realität. Jetzt stösst der Surfer auf eine Unzahl von kulturellen Schranken und Tabus, von deren Existenz er bisher kaum etwas ahnte. Die Kommunikation zwischen realen Menschen ist weniger furchterregend, weil sie redundant ist. Die Botschaft übermittelt sich nicht nur durch das Wort, sondern in vielfältiger Form, beispielhaft im filmischen Drama "Kagemusha" von Akiro Kurosawa umgesetzt: Das strenge Ritual als ikokographische Manifestation der gesellschaftlichen Regeln und Tabus entbehrt letztlich der Sprache und wird sinnlos, wenn es nicht um Kommunikation geht, sondern nur darum, das Vorhandene zu verifizieren und zu bestätigen.

Die virtuellen Foren des Internets, weltweit vernutzt durch Rechenmaschinen, bedeuten für die Sprache das, was der protestantische Bildersturm für die Theologie war: Er entkleidet die Kommunikation der Vieldeutigkeit und wirft sie zurück auf das Wort. Wenn man den virtuellen Raum ernst nimmt, sind die private und die öffentliche E-Mail das Gerüst, auf dem weltweite Kommunikation basiert, wie das Fachwerk eines Hauses. Das bunte klickbare World Wide Web ist nur ein Füllsel, das das Ganze nett anschauen lässt und komfortabel für die Benutzer macht. Das Wort allein ist der Weltgeist - keine Mimik, keine Gestik, keine sinnlich wahrnehmbaren sozialen Schranken, keine sprachlichen Tabus. Die weltweite Kommunikation war in Wahrheit eine Illusion, da die Nutzer in der Frühzeit des Internets ausschliesslich einem bestimmten Milieu angehörten - dem der scientific community - und den dort herrschenden "vernünftigen" kommunikativen Regeln auch für die digitale Form schlicht übernahmen. Die "Net(t)iquette", die Benimmregeln des Internets, fordern weltweit die Sprache und Umgangsformen der aufstiegsorientierten Mittelschichten der Ersten Welt.

Die Realität holt jetzt ihre virtuelle Simulaton ein. Jürgen Habermas warnte schon in den siebziger Jahren angesichts eines desintegrierten common sense: Das Moment der Öffentlichkeit, das Vernunft verbürge, könne nicht gerettet werden unter Preisgabe der allgemeinen Zugänglichkeit. Von neuen Medien ahnte damals niemand etwas, aber die Frage ist aktuell: Das Usenet, die Gesamtheit aller öffentlichen Diskussionsforen und technisch unabhängig vom World Wide Web, verliert seine ursprüngliche Qualität, nur ein halbes Jahrzehnt, nachdem es sich zumindest in den USA als neue Form des öffentlichen Raums durchgesetzt hat. Ein jederzeit und weltweit erreichbares virtuelles "Schwarzes Brett" - nichts anderes ist eine Newsgroup - hat nur dann einen Sinn, wenn dort Menschen schreiben, die sich etwas zu sagen haben. Viele Foren quillen jedoch mittlerweile über von Spam (unerwünschter Werbung) und dem Gestammel der von den Netz-Veteranen so genannten DAUs ("dümmste anzunehmende User"). Der Trend geht zu geschlossenen Benutzergruppen, deren Betreiber sich vorbehalten, jemanden, der alle Nachrichten des jeweiligen Forums abonniert hat, aber sich nicht der Netiquette gemäss verhält, wieder vom Diskurs auszuschliessen. Die reale Welt und ihre Gesetze durchdringen die virtuelle Gegenwelt, die sich als Insel der kommunikativ Seligen wähnte. Im Chat ("schnattern") zählt das nur das geplapperte Wort. Produktion sozialer Geräusche in Echtzeit - das kennen wir aus der Daily Soap und aus Talk-Shows. Das Medium transportiert keine Botschaft mehr, es ist die Botschaft. Es simuliert Realität wie die Puppenstube das Familienleben.

Der Mensch lebt immer noch in kleinen Gruppen. Es scheint, als wollte er das nicht anders, als sei er nicht in der Lage, die Zügel der Evolution abzustreifen, die verhindern, dass er sich freudig und tollkühn auf Dinge einlässt, die er noch nicht kennt. Der "Ethnisierung" der Politik entspricht die "Ethnisierung" des Internets. Immer mehr soziale Gruppen verzichten auf den Zugang zu allen Informationen und stellen freiwillig Filter auf, die das jeweils Böse nicht an sie heranlassen. Religiöse und politische Milieus sondern sich trotz der Technik ab; Kosher.net, American Familiy Online - wir zeigen uns nur, was wir ohnehin schon wissen.

Die Mutter aller Computernetze ist dem Menschen in der Entwicklung voraus - wie der Ozean, der die Schiffahrt schon immer ermöglichte, aber nicht die Garantie bot, dass der Mensch sie auch nutzte, um ferne Gestade zu erreichen. Noch steht die zivilisatorische Arbeit erst bevor, die den Menschen internetfähig macht. Norbert Elias konstatierte als Fortschritt im "Prozess der Zivilisation" die "Verwandlung zwischenmenschlicher Fremdzwänge in einzelmenschliche Sachzwänge". Die Chance, mit allen zu reden, die Chance, alles zu wissen, überfordert den Jetztmenschen.

Deshalb ist der Sozialcharakter des Hackers sowohl ein Appell an die Zukunft, dem Wissensdurst keine ökonomischen Schranken in den Weg zu stellen als auch ein verzweifelter Protest gegen diese Zukunft: Hacker demolieren digitale Kaufhäuser wie ein Kind, dass das Spielzeug zerlegen will, um zu wissen, wie es funktioniert, ohne die Garantie zu haben, es wieder zusammensetzen zu können. Die Hacker-Attacke gegen Internet-Firmen ist auch eine öffentliche Demonstration der Furcht: der Hacker besitzt in den Augen der Öffentlichkeit ein esoterisches Wissen, das ihm Macht verschafft - und ganz profan gute Aussichten, einen Job in der boomenden Computer-Industrie zu ergattern. Diese Macht behält er nur, wenn er gegen seine eigenen Regeln - die der Hacker-Ethik -, das Wissen für sich behält. Der virtuelle Hooligan zeigt, was er kann, um sich seines eigenen sozialen Prestiges zu vergewissern, wie ein Schimpanse, der sich drohend auf die Brust trommelt. Der Homo Sapiens bleibt sich treu, auch im Cyberspace.

Der virtuelle Raum, die vernetzten Wissensspeicher sind nur eine neue Form des alten Menscheitstraums: alles zu wissen, um die Furcht vor dem Ungewissen zu bannen. Ist omnipräsentes Wissen, ein Konglomerat aus allen verfügbaren Informationen in Form von Nullen und Einsen, ein Synonym für Leben, für dessen Sinn? Ein Zeichen für das Streben nach Wissen, heisst es in der "Metaphysik", sei die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen. "Keine Sinneswahrnehmung ist jedoch eine Weisheit", résumiert Aristoteles. Und die Summe aller Bits und Bytes sind nicht das Wissen, was zählt. Auch das Internet und das Wissen um die Gedanken aller anderen Menschen wirft den Einzelnen auf sich selbst zurück. Aus der Traum.

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